- Nationalitätenfrage: »Pulverfass Balkan« - Nationalitätenkonflikte im 19. Jahrhundert
- Nationalitätenfrage: »Pulverfass Balkan« - Nationalitätenkonflikte im 19. JahrhundertDer Freiheitskampf der Balkanvölker gegen das verhasste Sultansregime endete zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem mörderischen Bruderkampf. Bei der Neuordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen nach dem rapiden Zerfall des Osmanischen Reichs erwies sich der Ethnonationalismus als ein gefährlicher Sprengsatz. Die Balkanhalbinsel wurde zum sprichwörtlichen »Pulverfass«.Föderationspläne sind nach der gescheiterten Revolution von 1848 in den verschiedensten Varianten wiederholt in Emigrantenkreisen geschmiedet worden. Der Wunschtraum von einer schlagkräftigen Allianz aller christlichen Balkanvölker im Türkenkampf wurde aber nie Wirklichkeit. Rivalitäten unter den Führungsschichten und nicht zuletzt die Irritationen, die von einer schwankenden Haltung der Großmächte in der Orientpolitik ausgingen, haben die wechselseitigen Beziehungen erheblich belastet.Erste Anzeichen eines kommenden Unheils kündigten sich schon in der vornationalen Phase an im Zusammenhang mit der ungarischen Magnatenverschwörung von 1670/71 und seit 1678 in den Kuruzenkriegen unter Imre Graf Tököly sowie 1821 beim Ausbruch des griechischen Freiheitskampfes in der Protestbewegung rumänischer Bauern unter Tudor Vladimirescu in der Walachei.Der Sieg des EthnonationalismusSpätestens im Revolutionsjahr 1848 zeigte sich, dass eine solidarische Lösung der orientalischen Frage in immer weitere Ferne gerückt war. Die Wortführer einer erwachenden Nationalbewegung beriefen sich auf das identitätsstiftende Argument der gemeinsamen Sprache und Herkunft. Ihre politischen Forderungen waren innerhalb der bestehenden Staatenordnung kaum mehr einvernehmlich einzulösen.In Siebenbürgen musste die seit dem 15. Jahrhundert gültige staatsrechtliche Konstruktion Konfrontationen schüren. Sie gewährte den ständischen »Nationen« der Ungarn, Szekler und Sachsen weitgehende Vorrechte, verweigerte jedoch der Bevölkerungsmehrheit der rumänischen Bauern die Gleichberechtigung und erkannte ihrer orthodoxen Religion nur einen geduldeten Status zu. Unter den Bulgaren hatten sich aus ähnlichen Konstellationen schon längst Animositäten gegen die hochmütige griechische Hierarchie angehäuft.Von interethnischen Spannungen blieb auch im Norden der Balkanhalbinsel das Königreich Ungarn im 19. Jahrhundert nicht verschont. Dem ständischen Widerstand des kroatischen Adels hatte sich seit den Dreißigerjahren die Patriotengruppe der Illyristen angeschlossen. Sie erhob Einspruch gegen die Einschränkungen der überkommenen Munizipalrechte und instrumentalisierte zur Abwehr der Magyarisierungsbestrebungen die verblassende Erinnerung an die frühmittelalterliche Eigenstaatlichkeit für ein nationalkulturelles Aktionsprogramm.Die ungarische Revolutionsregierung hatte es 1848 versäumt, rechtzeitig den Wünschen und Erwartungen der Nationalitäten in den Ländern der ungarischen Krone entgegenzukommen. Im Herbst 1849 standen die Serben, Kroaten, Slowaken und Rumänen nahezu geschlossen im gegnerischen Lager und der kaisertreue Ban von Kroatien und Kommandant der Militärgrenze, der Feldmarschallleutnant Joseph Graf Jellačićvon Bužim, beteiligte sich mit seinen Truppen aktiv an der Niederwerfung des Aufstandes.Eine auf Expansion hin angelegte Außenpolitik, die sich an den fiktiven Grenzen mittelalterlicher Reichsgründungen orientierte, bedrohte vor allem jene Völker, die noch im osmanischen Machtbereich verblieben waren und die über keine eigenständigen staatlichen Organisationsstrukturen verfügten. Zwischen den überzogenen Raumvorstellungen der Griechen — die »Große Idee« — und der Serben, die Ilije Garašanin erstmals 1844 in seinem berühm- ten »Entwurf« (Načertanije) skizziert hatte, war kein Kompromiss denkbar.Multinationaler Balkan — Staatsnationen versus MinderheitenDie typische Gemengelage der Siedlungsräume auf der Balkanhalbinsel stand jedem wohl gemeinten Versuch, eine gerechte Aufteilung des vom Türkenjoch befreiten Territoriums nach dem ethnonationalen Prinzip zu versuchen, hindernd im Wege. Binnenwanderungen und der durch Kriegshandlungen erzwungene Exodus größerer Bevölkerungsgruppen hatten zu weit reichenden demographischen Umschichtungen geführt. Die habsburgische Militärgrenze, die sich von der Adriaküste bis nach Siebenbürgen hinzog, war seit dem 16. Jahrhundert zu einem Sammelbecken von Balkanflüchtlingen geworden. Die Siedlungsschwerpunkte der Serben hatten sich in osmanischer Zeit von Raszien — serbisch Raška —, dem Kerngebiet der mittelalterlichen Nemanjidenherrschaft an den Flüssen Piva, Tara, Lim und am Oberlauf der Drina und der westlichen Morava, in die nördlichen Waldgebiete der Schumadija an Donau und Save verlagert. Nach der »Großen Wanderung« des Jahres 1690 waren auf südungarischem Territorium in der Fruška gora — dem »Frankengebirge« — und um Karlowitz — dem serbischen Sremski Karlovci — in Sirmien serbische Ansiedlungen entstanden.Die serbische Nordwanderung hatte den inzwischen großenteils islamisierten Albanern den Zugang in die entleerten altserbischen Gebiete geöffnet. Die entfernten Ausläufer dieser albanischen Siedlungsausbreitung, die schon im 14. Jahrhundert einsetzte, reichten über Makedonien bis in die zentralgriechischen Landschaften auf der Peloponnes hinein. Walachische Hirtennomaden, die auf ihren Wanderungen von den Sommerweiden zu den Winterplätzen oftmals eine lange Wegstrecke zu bewältigen hatten, lebten verstreut über ein weites Areal in den innerbalkanischen Hochregionen. Aromunische und armenische Kaufmannsfamilien hatten sich in den städtischen Siedlungen niedergelassen und kontrollierten weitgehend den Zwischen- und Außenhandel im Osmanischen Reich.Die Balkanstädte waren seit alters fremdethnische Gebilde, die sich vom bäuerlichen Umland abgrenzten. Sie hatten im Donauraum einen mitteleuropäisch-deutschen, in der Adriazone einen italienischen Charakter angenommen. Die strategisch wichtigen Positionen im Inneren der Balkanhalbinsel hielten in osmanischer Zeit türkische Einwanderer besetzt. Nach dem Ende der reconquista in Spanien 1492 ließen sich sephardische (spaniolische) Juden, die im Osmanischen Reich Zuflucht gefunden hatten, in Istanbul und in den größeren Städten der südlichen Balkanhalbinsel nieder. Die Bevölkerung Salonikis war noch während des ganzen 19. Jahrhunderts mehrheitlich jüdisch. Die Griechen stellten erst nach den gewaltsamen ethnischen Säuberungen im 20. Jahrhundert und nach den Deportationen vieler Juden durch die Deutschen in die Vernichtungslager während des Zweiten Weltkriegs die Bevölkerungsmehrheit. Aschkenasische Juden waren in größerer Zahl vornehmlich seit dem 18. Jahrhundert nach Ungarn und in die Donaufürstentümer eingewandert. Einstreuungen islamisierter Bevölkerungsgruppen haben sich bis zur Gegenwart in einem christlichen Umfeld in Bulgarien — Pomaken —, in Makedonien und im Kosovo (Albaner) sowie in Bosnien-Herzegowina gehalten. Über Kleinasien waren seit dem 14. Jahrhundert die Roma nach Südosteuropa eingewandert. Sie erreichten vornehmlich in Ungarn und in Rumänien einen relativ hohen Bevölkerungsanteil.Vor der gewaltsamen Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs lebten an der nördlichen Peripherie der Balkanhalbinsel noch die Nachkommen ehemaliger deutscher Kolonisten. Mit einer Gesamtzahl von annähernd 1,9 Millionen zählten die Deutschen in Südosteuropa bis zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu den größeren Minderheitengruppen in Ungarn, Jugoslawien und Rumänien.Für die Umsetzung der nationalstaatlichen Idee bot das Selbstbestimmungsrecht keine dauerhafte Lösung. Exakte Grenzziehungen waren in einem multiethnischen Umfeld an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht mehr konsensfähig. Eine revisionistische Außenpolitik stellte seither in Südosteuropa alle vertraglichen Regelungen grundsätzlich infrage.Das Bulgarische ExarchatDie Reformvorhaben innerhalb des Osmanischen Reichs in der Tansimatperiode ab 1839 beziehungsweise 1856 nach dem Ende des Krimkriegs bis 1876 eröffneten der Eigeninitiative innerhalb der christlichen Bevölkerungsgruppen einen größeren Spielraum. Die Bulgaren forderten Mitspracherechte in ihren kirchlichen und schulischen Angelegenheiten und fanden Rückhalt bei den türkischen Behörden. Einzelne Gemeinden verweigerten den vom Patriarchen eingesetzten Bischöfen den kirchlichen Gehorsam, andere suchten die Annäherung an den Papst und die Union mit der römischen Kirche. Am 3./15. April 1860 — die zweite Datumsangabe orientiert sich an dem in vielen orthodoxen Ländern erst im 20. Jahrhundert eingeführten gregorianischen Kalender — kündigte während der Feier der Osterliturgie in der bulgarischen Kirche des heiligen Stephan in Istanbul der Titularbischof von Makariopolis, Ilarion Makariopolski, demonstrativ die Liturgiegemeinschaft mit dem Patriarchen auf. Den schwierigen Verhandlungen über die territoriale Abgrenzung einer autokephalen bulgarischen Kirche griff der Sultan mit dem Erlass vom 12. März/28. April 1870 vor. Aus dem Sprengel des Ökumenischen Patriarchates wurde das Bulgarische Exarchat abgetrennt. Der zum Exarchen bestellte Metropolit von Widin, Antim, der in Istanbul residierte, verkündete am 23. Mai 1872 in einem einseitigen Schritt die Unabhängigkeit der bulgarischen Kirche. Der Kirchenstreit zwischen den Patriarchisten und Exarchisten gewann eine neue theologisch-kanonistische Dimension, als die Patriarchatssynode den Kirchenbann über die bulgarischen Schismatiker aussprach. Die Kirchenspaltung sollte erst im Jahre 1945 wieder aufgehoben werden.Bulgarische und griechische ExpansionAuf dem Berliner Kongress 1878 mussten die Bulgaren ihre Wunschträume von einem Großbulgarischen Reich in den territorialen Umrissen, die das russische Diktat im Vorfrieden von San Stefano dem Sultan aufgezwungen hatte, wieder begraben. Auch Griechenland fühlte sich von den Mächten verraten, die Großbritannien die Besetzung der von Griechen bewohnten Insel Zypern zugestanden, aber die Entscheidung über eine Erweiterung der griechischen Nordgrenze vertagten. Ein 1881 mit dem Sultan ausgehandelter Vertrag überließ den Griechen Thessalien und das Gebiet von Arta in Epirus, konnte aber den Verfechtern der »Großen Idee« nicht genügen. Die Bulgaren operierten erfolgreicher auf eigene Faust. 1885 verkündete Fürst Alexander von Battenberg einseitig die Vereinigung Ostrumeliens mit dem autonomen bulgarischen Fürstentum. Der brüskierte serbische König Milan I. Obrenović antwortete am 2./14. November 1885 mit einer Kriegserklärung und leitete einen Waffengang ein, der für Serbien mit einer militärischen Katastrophe endete. Der kurze serbisch-bulgarische Krieg von 1885 war der Auftakt zu einem blutigen Streit unter den christlichen Balkanstaaten um den Besitz Makedoniens, der sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen sollte.Die makedonische FrageMakedonien war im 19. Jahrhundert nicht mehr als ein geographischer Begriff. Die äußeren Grenzen waren mit dem Balkangebirge (bulgarisch Stara planina) im Norden, dem Olymp und dem Pindos im Süden, dem Ohridsee im Westen und den Rhodopen im Osten nur sehr vage umschrieben. In der osmanischen Verwaltungseinteilung fand der Begriff »Makedonien« keine Entsprechung. Das fragliche Areal nahmen vornehmlich die Wilajets Saloniki, Monastir — das heutige Bitola — und Teile des Wilajets Kosovo und des Sandschaks Seres ein. Zur Bevölkerungsstatistik und zur zahlenmäßigen Stärke der einzelnen nationalen Gruppierungen unter den annähernd 2,5 Millionen Bewohnern liegen nur sehr ungenaue Angaben vor.Griechenland reklamierte nahezu sämtliche christlichen Bevölkerungsgruppen für sich und rechnete die slawischen Bewohner Makedoniens den »slawophonen« Griechen zu. Als Griechen firmierten lange Zeit auch die Aromunen, die von den Griechen Kutzowalachen, den Serben Zinzaren und den Türken Tschobani genannt werden und die ein ostromanisches Idiom sprechen. Ihre führenden Händlerschichten aber waren als orthodoxe Christen ganz auf die hellenischen Schul- und Kulturtraditionen ausgerichtet.Der sich verschärfende Sprachen- und Kulturkampf der Griechen und Bulgaren geriet seit den Achtzigerjahren immer mehr außer Kontrolle und leitete in eine terroristische Phase des Nationalitätenkonflikts in Makedonien über. Bei allen Beteiligten übernahm ein politisches Bandenwesen die Exekution vermeintlicher nationaler Ansprüche. Auf dem Höhepunkt der Krise kamen schließlich die illegalen revolutionären Schutztruppen, die Komitadschi, sowohl gegen die türkische Staatsgewalt wie im terroristischen Volkstumskampf unter den Balkanchristen zum Einsatz.Die Innere Makedonische Revolutionäre OrganisationTrotz aller internen Zwistigkeiten in der Makedonienfrage blieb es das vorrangige Ziel der Balkanvölker, die Türkenherrschaft notfalls mit Waffengewalt zu beenden. Wiederholte Aufstandsversuche und Überfälle auf türkische Einrichtungen signalisierten eine zunehmende Gewaltbereitschaft. Um nicht zum willenlosen Opfer fremder Interessen zu werden, formierte sich innerhalb der makedonischen Bevölkerung ein geheimes Revolutionskomitee. Es war am 23. Oktober 1893 u. a. von Dame Gruev in Saloniki als »Makedonische Revolutionäre Organisation«, später bekannt als »Innere Makedonische Revolutionäre Organisation« (IMRO), begründet worden. Seine Mitglieder verfolgten im Gegensatz zum nationalbulgarischen »Oberen Makedonischen Komitee« in Sofia autonomistische Zielsetzungen und errichteten im Untergrund ein weit verzweigtes Netzwerk des militärischen Widerstands. Das Revolutionskomitee verstand sich unter der ideologischen Führung Goce Delčevs als eine antitürkische Kampforganisation aller Bewohner Makedoniens. Sein Werk waren zahlreiche terroristische Anschläge und Einzelaktionen. Die IMRO zettelte schließlich auch den folgenschweren Ilinden-Aufstand am 20. Juli/2. August 1903 — dem Tag des Propheten Elias — an, der in einem Blutbad bei den Auseinandersetzungen zwischen den christlichen und den muslimischen Bewohnern endete.Unter dem Eindruck der blutigen Ereignisse trafen Zar Nikolaus II. und Kaiser Franz Joseph Ende September 1903 im kaiserlichen Jagdschloss im steirischen Mürzsteg zusammen und verpflichteten den Sultan im Namen der Großmächte auf ein Reformprogramm zugunsten der christlichen Bewohner Makedoniens. Artikel 3 der Mürzsteger Beschlüsse sah eine künftige administrative Neugliederung vor, die mehr Rücksicht nehmen sollte auf die ethnographischen Gegebenheiten. Diese wohl gemeinten Vorschläge verschärften jedoch die interethnischen Spannungen. Sie spornten die Führer der militärischen Verbände an, in einer letzten Kraftanstrengung doch noch die bestehenden Demarkationslinien zwischen den einzelnen Volksgruppen zu korrigieren. Die Folge war eine Ausweitung des Bandenkriegs, an dem sich in gleicher Weise bulgarische, griechische, serbische, walachische und albanische Freischärler mit einem gnadenlosen Fanatismus beteiligten.Die Verschwörung der »Jungtürken«Der brodelnde Hexenkessel in Makedonien, den aufgeputschte nationale Leidenschaften unter den Balkanchristen immer wieder anheizten, wurde zu einer Bedrohung der türkischen Staatsmacht im Lande. Der dringende Wunsch, dem schleichenden Zerfall des Reichs Einhalt zu gebieten, verwischte die ererbten Feindbilder. Die islamische Reichsbevölkerung wurde sich auf der Suche nach einer eigenen Identität ihrer nationalen Unterschiede bewusst. Emigranten in Paris und London träumten von einer türkischen Wiedergeburt. Osmanisten, Panturanisten und türkische Nationalisten meldeten sich zu Wort. Offiziere des dritten Armeekorps in Saloniki gaben am 23. Juli 1908 das Signal zum Aufstand gegen das Sultansregime. An der Offiziersverschwörung der »Jungtürken« waren unter anderem Mustafa Kemal Pascha und Enver Pascha, die Gründungsväter der modernen Türkei, maßgeblich beteiligt. Sie forderten in ultimativer Form die Rückkehr zu einer verfassungskonformen Regierungsweise und strebten eine brüderliche Versöhnung der verschiedenen Nationalitäten in einem gemeinsamen Reich an, das allen Staatsbürgern die gleichen Rechte einräumt.Die albanische FrageDie Begehrlichkeit der Nachbarn hat den Albanern geholfen, über alle innergesellschaftlichen sozialen und konfessionellen Trennungen hinweg den Gedanken einer nationalen Zusammengehörigkeit zu wecken. Ein geheimes »Zentralkomitee zur Verteidigung der Rechte der albanischen Nation« organisierte seit 1878 mit Duldung des Sultans von Istanbul aus den Widerstand. Um bei den Grenzregelungen nach dem Berliner Kongress eine drohende Aufteilung ihres Siedlungsgebietes unter den Serben, Montenegrinern und Griechen abzuwenden, schlossen sich die konkurrierenden Stammesverbände noch 1878 in der »Albanischen Liga« von Prizren zu einem gemeinsamen Verteidigungsbündnis zusammen.Die Autonomieforderungen der Albaner waren mit der zentralistischen Staatskonzeption der Jungtürken auf Dauer nicht zu vereinbaren. Die albanische Frage blieb ein Zankapfel in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Während sich die christlichen Balkanstaaten zum letzten Waffengang gegen das Osmanische Reich rüsteten, drohten die Albaner zwischen allen Fronten zerrieben zu werden. Als ein albanischer Nationalkongress in Vlorë (italienisch Valona) den Bruch mit dem Sultan absegnete und am 28. November 1912 einen selbstständigen albanischen Staat proklamierte, standen fremde Besatzungstruppen überall im Lande und hatten die wichtigsten Städte unter Kontrolle. Die Großmächte begnügten sich während der Balkankrise von 1912/13 mit der Sicherung der staatlichen Unabhängigkeit Albaniens unter einem deutschen Fürsten und mit der Wahrung des Gleichgewichts im östlichen Mittelmeerraum.Die BalkankriegeNicht ohne Mitwirkung der russischen diplomatischen Vertretungen vor Ort war in mühsamen bilateralen Verhandlungen seit 1908 eine offensive Balkanallianz geschmiedet worden. Mit der Kriegserklärung vom 8. Oktober 1912 eröffnete Montenegro, unterstützt von Bulgarien, Serbien und Griechenland, den Ersten Balkankrieg, der die Endphase der orientalischen Frage einleiten sollte. Der Sultan, an allen Fronten geschlagen, musste sich im Londoner Friedensvertrag vom 30. Mai 1913 dem Diktat der Sieger beugen. Sie gestanden ihm auf der Balkanhalbinsel nur noch einen schmalen Gebietsstreifen im unmittelbaren Vorfeld Istanbuls zu.Der unerwartete Sieg der christlichen Balkanstaaten läutete gleichzeitig eine neue Runde im Nationalitätenkonflikt ein. Zusätzliche bulgarische Gebietsansprüche und Kompensationsforderungen Serbiens, das sich um den Zugang zur Adriaküste durch die Schaffung eines unabhängigen Albanien betrogen sah, ließen den Streit um die Aufteilung Makedoniens erneut aufleben. Bulgarien griff im Zweiten Balkankrieg am 29. Juni 1913 Serbien und Griechenland an, die von der Türkei und Rumänien unterstützt wurden. Bulgarien wurde geschlagen. Im Frieden von Bukarest vom 10. August 1913 behauptete Bulgarien mit dem Piringebiet nur noch ein Zehntel des makedonischen Territoriums. Der Löwenanteil — das Wardargebiet mit den Städten Ohrid, Skopje und Bitola — fiel an Serbien und vor allem an Griechenland, das die gesamte Küstenzone und mit Kavala und Saloniki die beiden wichtigsten Ausfuhrhäfen an der ägäischen Küste Makedoniens hinzugewann.Das »Neue Europa«Nach den visionären Vorstellungen des späteren tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk sollte das »Neue Europa« den bislang unterdrückten kleinen Völkern gehören, die jahrhundertelang unter der Bevormundung fremder Herren hatten leben müssen und nun nach staatlicher Eigenständigkeit verlangten. Die Vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson vom Januar 1918 räumten bei der anstehenden Neuordnung der europäischen Staatenwelt dem Selbstbestimmungsrecht den Vorrang ein. Seine strikte Anwendung führte am Ausgang des Ersten Weltkriegs zur Auflösung der Donaumonarchie. Der militärische Zusammenbruch der Balkanfront im Sommer 1918 beschleunigte den rapiden Zerfall der alten Ordnungen. Die Völker der Monarchie begehrten auf und besannen sich auf ihre eigenen Interessen. In den Brennpunkten nationalistischer Agitation konstituierten sich Nationalräte. Sie kündigten dem Kaiserhaus in Wien die Treue auf und schalteten sich in die organisatorischen Vorbereitungen der nationalen Staatsgründungen ein. Die notwendigen neuen Grenzziehungen sind im Auftrag der Siegermächte von Expertenkommissionen ausgehandelt worden. In ihren Vorschlägen spiegelte sich der unaufhebbare Widerspruch zwischen ethnisch-sprachlichen, strategischen und historischen Abgrenzungskriterien wider. Nur in Ausnahmefällen wurden die Entscheidungen einem Plebiszit unterworfen wie in Unterkärnten am 10. Oktober 1920 und im Burgenland am 14. Dezember 1921.Die Folgen — ein »Pulverfass«Der jahrelange erbitterte Kampf um gerechte Grenzen hatte fatale Folgen. Die Nachfolgestaaten des Versailler Systems erwartete in den Zwanzigerjahren eine tief gehende Strukturkrise und sie hatten mit schwer integrierbaren Minderheiten zu leben. Zu den im Volkstumskampf umstrittenen Grenz- und Übergangszonen zählten unter anderem Westungarn und das Burgenland, die Untersteiermark und Unterkärnten, die ehemalige habsburgische Militärgrenze, die Wojwodina und Ostslawonien, das Triester Umland und die Adriaküste, Siebenbürgen, Bosnien-Herzegowina, der Kosovo, Nordepirus, Makedonien, die Bukowina, die Dobrudscha, Bessarabien sowie das unmittelbare Vorfeld Istanbuls in Thrakien. Der betroffenen Bevölkerung blieb nur die Wahl zwischen einem ungewissen Minderheitenschicksal und dem harten Flüchtlingselend, das sie bei einer überhasteten Flucht über die neuen Landesgrenzen erwartete. Zwangsumsiedlungen und ein in bilateralen Verträgen geregelter Bevölkerungsaustausch kennzeichneten in fast allen Balkanstaaten einen schleichenden Prozess der gewaltsamen Homogenisierungen und der brutalen ethnischen Säuberungen. Im »Pulverfass« des Balkans sammelte sich so ein gefährliches Konfliktpotenzial an. Es war während der ganzen Zwischenkriegszeit mit den herkömmlichen Mitteln der Politik kaum mehr zu entschärfen. Die Schutzverträge waren für bedrohte Minderheiten nur eine untaugliche Sicherheitsgarantie. Der Völkerbund konnte der ihm zugedachten Aufgabe als vermittelnde und ausgleichende Schiedsinstanz nicht gerecht werden. Die aufbrechenden inneren Gegensätze stellten schließlich in den meisten Nachfolgestaaten die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems infrage und ließen sie in autoritären Staatsformen einen Ausweg aus der Krise suchen.Prof. Dr. Edgar HöschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Jugoslawien: Vaterland der SüdslawenGrundlegende Informationen finden Sie unter:Österreich-Ungarn: Nationale Fragen in der Donaumonarchieosmanische Herrschaft in Südosteuropa: Halbmond über EuropaAdanir, Fikret: Die makedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis 1908. Wiesbaden 1979.Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München 1996.Dakin, Douglas: The Greek struggle in Macedonia. 1897-1913. Thessaloniki 1966. Nachdruck Thessaloniki 1993.Djordjevic, Dimitrije / Fischer-Galati, Stephen: The Balkan revolutionary tradition. New York 1981.Friedenssicherung in Südosteuropa. Föderationsprojekte und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenstaatlichkeit, herausgegeben von Mathias Bernath und Karl Nehring. Neuried 1985.Jong, Jutta de: Der nationale Kern des makedonischen Problems. Ansätze und Grundlagen einer makedonischen Nationalbewegung (1890-1913). Ein Beitrag zur komparativen Nationalismusforschung. Frankfurt am Main u. a. 1982.Macedonia. 4000 years of Greek history and civilization, herausgegeben von Michal B. Sakellariou. Aus dem Griechischen. Athen 1983.Nationalrevolutionäre Bewegungen in Südosteuropa im 19. Jahrhundert, herausgegeben von Christo Choliolev u. a. Wien 1992.Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa, herausgegeben von Wolfgang Höpken. Hannover 1996.The other Balkan wars. A 1913 Carnegie Endowment inquiry in retrospect, herausgegeben von der International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Beiträge von George F. Kennan. Neuausgabe Washington, D. 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Universal-Lexikon. 2012.